Wie wir glauben zu wissen, was wir NICHT wissen

Einleitung/Vorbemerkung

Kaum ein Bereich unseres Lebens unterliegt so vielen Missdeutungen und Irrtümern wie der Begriff „Wirtschaft“. Während wir schon die Irrtümer ‚der Allgemeinheit‘ und ‚des Rechts‘ und ‚der Finanzen‘ kennengelernt haben, kommt mit diesem Buch ein Bereich unseres Lebens hinzu, der maßgeblich unsere Lebensqualität beeinflusst. Wir fühlen uns deprimiert, wenn wir hören/lesen, dass die Wirtschafsleistung im kommenden Jahr geringer werden wird als in diesem Jahr (obwohl wir häufig gar nicht wissen, WAS damit eigentlich gemeint ist). Gleichzeitig freuen uns, wenn wir hören/lesen, dass die Staatsverschuldung im kommenden Jahr nur noch um 20 Mrd. € steigt statt ursprünglich erwartet um 25 Mrd. €. Dabei nehmen wir nicht wahr, dass auch 20 Mrd. ein Anstieg von Schulden sind. Oder wir fühlen uns betrogen, wenn wir hören/lesen, dass die Reallöhne im letzten Jahrzehnt gesunken sind ohne zu wissen, dass wir uns nach der Kaufkraftparitätentheorie immer mehr leisten können zu immer geringeren (relativen) Preisen.

 

Das Buch räumt mit solchen fundamentalen Irrtümern auf und trägt gleichzeitig dazu bei, die bei uns Deutschen weit verbreiteten Zukunftsängste abzubauen. Denn diese sind häufig so irrational das man sich schon wundern muss, dass wir im 21. Jahrhundert leben und nicht im Mittelalter, als der Glaube an Hexen und Teufel noch salonfähig war. Im August 2013 veröffentlichte die Bank ING-DiBa eine von ihr in Auftrag gegebene Studie zur Finanzbildung der bundesdeutschen Bürger. Das Ergebnis war mehr als vernichtend. Danach gaben 53 % der Befragten  (erwachsenen) Bundesbürger an, dass sie finanzielle Analphabeten sind denen weder der Zinseszinseffekt etwas sagt noch die Gebührenaufschläge beim Fondsparen noch die Mini-Renditen der öffentlichen Sparförderung. In absoluten Zahlen entspricht das rd. 35 Millionen Bundesbürger. Auch die renommierte ‚Frankfurter Allgemeine Zeitung‘ griff dieses Thema im Februar 2014 auf und deckte noch eine weitere hochbrisante Tatsache bundesdeutscher Ahnungslosigkeit im Umgang mit Geld auf. Danach gaben 89 % der Befragten zu Rentenfonds an, dass sie solche natürlich kennen.

 

Bei der Nachfrage um was es sich denn bei einem ‚Rentenfonds‘ handelt gaben wiederum mehr als die Hälfte der Befragten an, diese dienen der Absicherung der gesetzlichen Rente. Fundamental ‚dümmer‘ geht es kaum noch. Und genau solche und ähnliche Erfahrungen habe ich in den über 20 Jahren Dozenten-lehrtätigkeit ebenfalls erfahren. Nur: das sind immer angehende Fach- und Führungskräfte die sich freiwillig und mit viel eigenem Geld dieser Zusatzausbildung unterwerfen. Diese Damen und Herren haben alle einen guten Schulabschluss und eine erste, erfolgreiche berufliche Ausbildung hinter sich. Und trotzdem sind und waren da immer riesige, fundamentale Missverständnisse und Einstellungen zu erkennen, wenn man die Eingangsfrage stellte: „Wie geht es eigentlich der Wirtschaft, dem Arbeitnehmer oder den kommunalen Haushalten in Deutschland?“ In der Vorgehensweise dieses Buches bin ich mir jetzt selbst einmal untreu. Normalerweise meide ich diese kurzfristigen, tagesaktuellen Nachrichtenmeldungen, die so ad hock jeden Tag über uns hereinbrechen und uns das Gefühl vermitteln: „Jetzt muss etwas getan werden. Und am besten ist es, wenn eine (sozialistisch aufgewachsene) Kanzlerin, ein Ministerpräsident aus einem Freistaat oder eine Arbeits-Ministerin, die zwar Arbeitslosigkeit verwalten kann, aber mit dem Rückgang nichts zu tun hat, diese Angelegenheiten gleich in die Hand zu nehmen und sie für uns lösen.“ Trotzdem übernehme ich zunächst die einzelwirtschaftlichen, tagesaktuellen Probleme und gehe darauf ein.

 

Aber nur um sukzessiv auf die übergeordnete Sichtweise einzugehen in der Vergangenheit und Zukunft stärker das zeigen, was momentan die Gegenwart ist. Das tragische an diesen Tagesmeldungen ist die Tatsache, dass man Tag für Tag den Ereignissen hinterher läuft und sich dabei in Details verliert ohne das große Ganze zu sehen. Das führt zu einem hektischen Hin und Her, einem überbordenden Aktionismus bei dem mehr zerschlagen als gerettet wird. Beispiele dazu gibt es unzählige und sie tauchen immer wieder in diesem Buch auf. Denken wir nur an das Auf und Ab der sogenannten EURO-Krise. Oder an die immer wieder über uns hereinbrechenden Steuerreformen, Gesundheitsreformen, Konjunktur-programme u.v.m; sie sind nur Ausdruck von hilflosem Aktionismus der Beteiligten – die dafür aber fürstlichen monatlichen Entlohnungen erhalten, von denen Leiharbeiter, HARTZ-IV Empfänger oder Geringverdienender nur träumen können. Und trotzdem haben diese Mitarbeiter ein mediales Interesse in der Öffentlichkeit, das genau diametral entgegengesetzt zu seinem/Ihrem Wirken für die Allgemeinheit ist.

 

In dem epochalen Werk „Die fünfte Disziplin“ von Peter M. Senge (ein Schüler von Dennis Meadows der 1972 die heute noch weltweit beachtete Studie an den Club of Rome zur „Lage der Menschheit“ veröffentlichte) wird das wie folgt zitiert:


„Von frühester Kindheit an lernen wir, Probleme in ihre Einzelteile zu zerlegen und die Welt zu fragmentieren. Dadurch werden komplexe Aufgaben und Themen scheinbar handhabbarer, aber wir zahlen einen versteckten, ungeheuer hohen Preis dafür. Wir sind nicht mehr in der Lage, die Konsequenzen unseres Handels zu erkennen; wir verlieren die innere Verbindung zu einem umfassenden Ganzen. Wenn wir dann versuchen, „das größere Bild“ zu sehen, bemühen wir uns, die Bruchstücke in unserem Kopf wieder zusammenzusetzen, alle Teile zu erfassen und zu ordnen. Aber das ist, wie der Physiker David Bohm es ausdrückt, vergebliche Liebesmüh, es ist so ähnlich, als würde man die Scherben eines zerbrochenen Spiegels wieder zusammenkleben und auf ein unverfälschtes Abbild hoffen. Und so geben wir dann irgendwann auf und versuchen nicht länger, das Gesamtbild zu erkennen.


Dieser „Bruch mit dem Ganzen“, das sich weigern „übergeordnete Zusammenhänge“ zu sehen und zu erkennen ist m. M. nach einem Großteil der allgemein weit verbreitenden Furcht vor der Zukunft, dem Ausmalen von Katastrophen und damit einhergehend einer Radikalisierung der Gesellschaft (die sich in entsprechenden Wahlergebnissen und ‚Bürgerbündnissen‘ wieder findet). Letztlich haben aber die etablierten Bürgerschichten auch dazu beigetragen, eine Weltzu zeigen in der „eisern gespart werden muss“, einzelne Teile des öffentlichen Dienstes „tot gespart werden“ und die kommunalen Kassen immer wieder mit neuen Sozialaufgaben belastetet werden, die „ihre finanziellen Möglichkeiten“ übersteigen. Ob das jetzt eine Verwaltungsangestellte im unteren Dienst, ein Polizeiinspektor im gehobenen Dienst, ein Kreistags-abgeordneteroder eine Landtagsabgeordnete ist bis hin zu Ministerialdirigenten,Staatssekretärin und sogar Bundesminister oder noch mehr. Immer und überall wird den Menschen verkündet, „dass es nicht reicht für eine HARTZ IV Erhöhung“ wir „marode Brücken und Straßen“ haben und „wir in Zukunft mit zunehmender Altersarmut rechnen müssen“, während zugleich die „Schere zwischen arm und reich“ immer größer wird.

 

Wenn jetzt draußen in der Welt mehrere Ereignisse – über Jahre hinweg –zusammentreffen:Die Ermordung des iranischen Ministerpräsidenten Mossadegh im Jahr 1953 (durch westliche Geheimdienste), den Irakkrieg von 2003 (durch westliche Verbündete) sowie die (westliche) Politik in Syrien während des arabischen Frühlings und das noch zusammen kommt mit einem dramatischen Anstieg der Weltbevölkerung. Letzteres fast ausschließlich und vor allem in afrikanischen und asiatischen Staaten, dann sehen die ‚kurzfristigen Betrachter und Betrachterinnen‘ nur diese Tagesereignisse. Auf einmal strömen zehntausende Menschen monatlich in unser wohlhabendes und sicheres Europa. Dass sich die Weltbevölkerung aber z.B. seit 1950 von 2,5 Mrd. Menschen auf aktuell 2015 mehr als sieben Mrd. dreihundertfünfzig Millionen Menschen nahezu verdreifacht hat, solche ablaufenden Ereignisse werden weder wahrgenommen noch irgendwie im Alltags-Bewusstsein registriert. (Das gilt nicht nur für die soziologischen Schichten in unserer Gesellschaft, die nachmittags die Programme der privaten Sender konsumieren. Das gilt auch für ganze deutsche Landstriche einschließlich dem einen oder anderen Präsidenten davon.) Alle zwölf Jahre wächst die Weltbevölkerung um eine Milliarde Menschen weiter an und das entspricht im Jahr 2010 einem Kontinent der ‚Größe von Afrika‘ Ist es ein Zufall, dass Europa seit einigen Jahren mit Wanderbewegungen von diesem Kontinent zu tun hat?

 

Wohl doch eher NICHT

 

Aber in unserer ‚Kurzfristigkeit‘ und auf ‚Tagesereignisse‘ konzentriert, nimmt der durch-schnittlich gebildete Mitteleuropäer diese Ereignisse nicht wahr. An einem ‚normalen‘ Fernsehabendtag sehen zwischen 4,73 Mio. und 6,29 Mio. Zuschauer ein ‚heute-journal‘ oder die Tagesschau um 20:00 h. An Rekordtagen – wie am 12. Juni 2016 beim Fußballspiel zwischen Deutschland und der Ukraine – wurden sogar 24,48 Millionen Zuschauer registriert. Das entspricht schon mehr als die Hälfte der bundesdeutschen Haushalte. Wenn man bedenkt, dass die Reichweite der dort verbreiteten Nachrichten noch einmal ca. zwei weitere Personen erfasst, dann lässt sich erahnen, wieviel Millionen Menschen in Deutschland ihr Wissen über wirtschaftliche und ökonomische Zusammenhänge aus solchen ‚Tagesereignissen‘ beziehen.

 

„Die Konzentration auf Ereignisse beherrscht die Gespräche in Organisationen (und Gesellschaften Anm. d. Autors): die Verkaufszahlen des letzten Monats, die neuen Budget-kürzungen, die Einnahmen des letzten Quartals, wer gerade befördert oder gefeuert wurde, das neue Produkt, das die Konkurrenz auf den Markt bringen will, die Verzögerung bei unserem eigenen neuen Produkt usw. Die Medien verstärken die Betonung von kurzfristigen Ereignissen – schließlich ist nichts so alt wie die Nachricht von gestern. Die Konzentration auf Ereignisse führt zu „Ereigniserklärungen“: ‚der Dow Jones fiel heute um 16 Punkte‘ verkündet die Zeitung ‚weil gestern niedrigere Gewinne für das vierte Quartal prognostiziert wurden‘. Solche Erklärungen mögen in sich wahr sein, aber sie lenken unsere Aufmerksamkeit von den langfristigen Veränderungsmustern ab, die hinter den Ereignissen stehen, und sie verhindern, dass wir die Ursachen dieser Muster begreifen.

 

Unsere Fixierung auf Ereignisse ist im Grunde ein Teil unserer evolutionsbedingten Programmierung. Wenn man einen Höhlenmenschen aufs Überleben programmieren will, ist die Fähigkeit, über den Kosmos nachzugrübeln, kein besonderer Programmteil. Wirklich wichtig ist, dass er den Säbelzahntiger über seiner linken Schulter erkennt und schnell reagiert. Die Ironie liegt darin, dass heute die primären Überlebensstrategien – für Organisationen ebenso wie für Gesellschaften – nicht von plötzlichen Ereignissen ausgehen, sondern von langsamen, schleichenden Prozessen.“