Die Eigenkapitalquote deutscher Unternehmen ist zu niedrig – vor allem beim Mittelstand

Um sich dieser Aussage zu nähern ist es erforderlich, sich einmal einen Überblick über die Unternehmenslandschaft in Deutschland zu verschaffen. Wir haben in Deutschland ca. 3 Mio. Unternehmen (in allen Größenordnungen und Rechtsformen – ohne Handwerk und landwirtschaftliche Betriebe). Pro Jahr kommen ca. 300.000 Unternehmen neu dazu und die gleiche Anzahl von 300.000 verlässt wieder den Markt. Die Gründe, warum Unternehmen vom Markt gehen, sind so vielfältig wie die Scheidungsgründe bei Ehepaaren und sie reduzieren sich keineswegs allein auf das Phänomen „Insolvenz“. Der überwiegende Teil verlässt den Markt aus folgenden Gründen:

 

Von den 300.000 Unternehmen, die jedes Jahr den Markt verlassen entfallen, rd. 90% (das entspricht: ca. 270.000 Unternehmen) auf die oben genannten Gründe. Und „nur“ rd. 10 % verlassen den Markt, mehr oder weniger freiwillig, durch Insolvenz. Das entspricht ca. 30.000 Unternehmen pro Jahr. (Mal sind es mehr, mal weniger. Aber die langfristige Zahl stimmt.)

 

Setzt man diese Anzahl einmal in das Verhältnis zur Gesamtanzahl der Unternehmen in Deutschland von durchschnittlich 3 Millionen. Dann kommt man auf rd. 1% (genau!). Und wie ist unsere Kommunikation über Unternehmensinsolvenzen? Genau umgekehrt. Wenn ein großes Versandhaus, eine (oder zwei) Solarfirmen, eine Werft oder sonst ein Unternehmen Insolvenz anmeldet, dann wird darüber berichtet, als wenn die ganze Unternehmenslandschaft in Deutschland davon betroffen wäre. Und wieder stimmt die ‚Kommunikation über wirtschaftliche Sachverhalte‘ mit der ‚Realität wirtschaftlicher Sachverhalte‘ nicht überein. Wieder ist es ein ‚psychologisches‘ und kein ‚ökonomisches‘ Problem. Nur so nebenbei noch. Von diesen 3 Mio. Unternehmen sind über 80 % Klein- und Kleinstunternehmen mit bis zu 9 Mitarbeitern. Sie kommen in unseren Nachrichten-sendungen, den Talkrunden und den Kommentaren der Tageszeitungen NICHT vor.

 

Sie beschäftigen etwas mehr als 20 % aller Arbeitnehmer in Deutschland. Und das sind exakt genauso viele wie die 0,4 % der Großunternehmen, die wir in Deutschland haben. Ob es nun ein erhöhtes Gefährdungsrisiko oder Insolvenzrisiko bei geringer Eigenkapital-ausstattung gibt, soll im Folgenden erörtert werden. Grundsätzlich kann festgehalten werden, dass Unternehmen zur Finanzierung ihres Aktivvermögens Kapital benötigen. Dieses Kapital können sich Unternehmen auf drei Wegen beschaffen (Standard–Sonderformen werden hier nicht behandelt). Als Eigenkapital von den Eigentümern/Inhabern/Gesellschaftern oder Aktionären. Als Fremdkapital von Banken (Direktkredite) oder vom ‚Geld- und Kapitalmarkt‘. In diesem Falle spricht man von Anleihen Finanzierung.

 

Die dritte Form ist die Finanzierung ‚aus sich selbst heraus‘ – die Innen-finanzierung. Letztere ist in der Öffentlichkeit nur wenig bekannt; und wenn doch, wird ihre Funktionsweise kaum verstanden. Sie stellt aber die bedeutendste und effektivste Form der Finanzierung von Unternehmen dar. Zum Verhältnis Eigen- zu Fremdkapital besteht vielerorts die „irrige“ Auffassung, das Unternehmen so wenig wie nur möglich Fremdkapital einsetzen sollten, da Kredite doch Kosten verursachen und zurückgezahlt werden müssen. Will man zu dem Thema ‚Kreditkosten‘ etwas sagen, dann sollte man wissen, wie viel Prozent vom Umsatz die Unternehmen in Deutschland dafür aufbringen müssen. Liegt der Wert bei 10%, 20% oder sogar noch darüber?

 

In der Spitze, Anfang der 80iger Jahre von 2,3 % des Umsatzes, sinkt dieser Wert kontinuierlich ab und erreicht Mitte der 2010-er Jahre gerade mal 1 % (i.W. EIN) des Umsatzes aller deutschen Unternehmen. Damit erscheint es müßig, sich über dieses Argument weiter unterhalten zu wollen. Dass sich dieses MEM so hartnäckig in der Öffentlichkeit hält, ist wieder ein Beweis für die weit verbreiteten ‚volkswirtschaftlichen Irrtümer im Alltag‘ und wohl eher ein Kommunikationsproblem als ein echtes betriebswirtschaftliches Problem. Die betriebs-wirtschaftlichen Hintergründe zur EK-Ausstattung sind folgende:

  1. Grundsätzlich müssen Unternehmen ihre laufenden Kosten immer aus dem laufenden Umsatz decken. Die Annahme, dass man zum Bezahlen von Sachkosten bzw. Personalkosten Kredite braucht, insbesondere Kontokorrentkredite, ist so märchenhaft wie die Feststellung, dass die kleinen Babys vom Storch gebracht werden. Lediglich wenn neue Wirtschaftsgüter angeschafft werden sollen, die im Anlagevermögen der Bilanz aktiviert werden, können Kredite eingesetzt werden. Das gleiche gilt auch bei Neugründungen bzw. Übernahme eines bestehenden Unternehmens.

  2. Das nächste betriebswirtschaftliche Argument im Umgang mit Krediten ist die Frage der Haftungsabsicherung. Vielerorts besteht die irrtümliche Meinung: „je höher das Eigenkapital eines Unternehmens, desto geringer ist sein Insolvenzrisiko“. Denn das Eigenkapital haftet ja – für was eigentlich?

 

Dazu etwas Grundsätzliches zum Wesen einer Bilanz. Diese besteht, wie man wissen sollte, aus zwei Seiten. Man kann auch sagen ‚Spiegelseiten,‘ denn beide müssen (und werden) sich immer entsprechen. Wenn ein Unternehmen mit 25.000 € Eigen- kapital gegründet wird, dann erscheint dieser Posten auf der Passivseite unter „Eigenkapital“ und gleichzeitig auf der Aktivseite unter „Bankguthaben“. Wird nun von diesem Geld ein PKW für 25.000 € gekauft, dann nimmt das Bankguthaben ab und im Sachanlagen-vermögen erscheint ein Vermögenswert unter der Position „Fuhrpark“ mit ebenfalls 25.000 €. Wenn nun durch grobe Fahrlässigkeit, in angetrunkenem Zustand einen Verkehrsunfall verursacht wird, bei dem der Wagen total zerstört wird, dann müssen sie auf der Aktivseite eine außerordentliche Abschreibung über 25.000 € vorgenommen werden und Vermögenswert verschwindet aus der Bilanz. Die Buchführungslogik führt aber dann dazu, dass die Gewinn- und Verlustrechnung ebenfalls einen Verlust in Höhe von 25.000 € ausweist. Und dieser Verlust muss mit dem EK-Konto verrechnet werden, so dass damit das Eigenkapital ebenfalls aus der Bilanz verschwindet.

 

Also wo ist hier eine ‚Haftungsfunktion‘?

 

Für die Verbindlichkeiten (anderes Wort für Kredite) eines Unternehmens haftet immer zunächst das Vermögen des Unternehmens – nicht das Eigenkapital. Das kann gar nicht haften. Noch etwas zu diesem weit verbreiteten MEM der Haftungssicherheit bzw. dem damit einhergehenden Irrglauben, je höher der Eigenkapitalanteil eines Unternehmens, desto stabiler und sicherer ist seine Situation. Der EK-Anteil in der Bilanz eines Unternehmens kann sich zwischen den beiden Extremwerten 0 % bis zu 100 % Anteil bewegen. Dann ist der FK-Anteil genau umgekehrt zwischen 100 % und 0 %. Abgesehen von diesen beiden unrealistischen Werten wird der tatsächliche Anteil in der Realität irgendwo dazwischen liegen. Jetzt aber zu glauben, dass ein hoher EK-Anteil in einer Bilanz besser vor einer möglichen Insolvenz schützt, geht vollkommen an der Realität vorbei. Sie können jedes Unternehmen – auch mit 100 % EK-Anteil – in die Insolvenz führen. Der einzige Unterschied zu einem vergleichbaren Unternehmen mit geringerer EK-Ausstattung und hohem Fremdkapitalanteil ist, dass sie für das erstere längere Zeit brauchen- mehr nicht.  Als zum 1. Juni 1990 die Wirtschafts- und Währungsunion zwischen vorher zwei rechtlich selbstständigen Staaten in Kraft trat, mussten die Unternehmen in den Beitrittsländern zum 30. Juni 1990 eine Abschlussbilanz in der Währung ‚Mark der DDR‘ erstellen.

 

Für den nächsten Tag, dem 1. Juli 1990, war sodann daraus eine (neue) Eröffnungsbilanz in DM zu erstellen. Grundlage für dieses Vorgehen war das D-Mark-Bilanzgesetz von 1990. Darin war u.a. festgehalten, dass die Unternehmen ihre Vermögenswerte auf der Aktivseite der Bilanz neu aufzunehmen und zu bewerten hatten. Gleichzeitig wurden die Kredite der Unternehmen im Verhältnis 2 Mark zu 1 DM um bewertet. Damit wurde ein Großteil der Passivseite halbiert. Wenn man von dem neu bewerteten Vermögen das so ermittelte (übrige) Fremdkapital abzog, ergab die Differenz das ‚verbleibende Eigenkapital‘. Da ich von Juli 1991 bis Mai 1993 als Filialleiter einer deutschen Großbank in den neuen Bundesländer mit über vierhundert Firmen- kunden zu tun hatte, musste ich natürlich auch solche Bilanzen auswerten und zu Kreditentscheidungen heranziehen. Dabei waren immer wieder Unternehmen mit (vermeintlich) hervorragender EK-Ausstattung, die jedoch schon nach wenigen Monaten insolvent waren. Warum? Das lässt sich am besten anhand eines Zahlenbeispiels erklären. Nehmen wir an, wir hätten ein (bewusst so gewählt – kleines) Unternehmen, dessen Aktivseite nach der Neubewertung mit 1 Mio. DM ausgewiesen wurde. Auf der Passivseite ergab sich – nach Abzug der Verbindlichkeiten – eine Eigenkapitalquote von 85 % (entsprach 850.000 DM Eigenkapital).

 

Nach nur fünf Monaten war das Unternehmen insolvent und musste abgewickelt werden. Der Grund war nicht das fehlende Eigenkapital (die Quote war ja mit 85 % sehr gut), sondern die Tatsache, dass von dem Aktivvermögen (von einer Million) ca. 980.000 DM in Form von Stallungen und Gebäude gebunden war. Lediglich 20.000 DM liquide Mittel sollten die laufenden Kosten vom 1. Juli bis zum Verkauf der Ernteerzeugnisse im Herbst überbrücken. Das konnte nicht funktionieren. Die Höhe des EK-Anteils nutzte dem Unternehmen überhaupt nichts, da der laufende Umsatz nicht vorhanden war. Alle diese Argumente zeigen, dass allein die Höhe des Eigenkapitals für sich NICHTS aussagt. Damit kann man auch nicht sagen, ob die EK-Quote der deutschen Unternehmen zu niedrig ist und diese dann ‚gefördert‘ werden müssen. Damit haben wir den tatsächlichen Erklärungsansatz, warum die Mitarbeiter von solchen Standesverbänden (Industrie- und Handelskammern, Handwerkskammern, Unternehmerverbände, Arbeitgeberverbände) die Meinung streuen, die Unternehmen in Deutschland hätten zu wenig Eigenkapital.

 

Sie (die Verbände, Institutionen) wollen nur auf sich aufmerksam machen.

 

Das würde ihnen ja nicht gelingen, wenn sie die Information ausgeben würden, dass die EK-Ausstattung deutscher Unternehmen nur kaum etwas mit der Stabilität/Sicherheit des Unternehmens zu tun hat. Und damit auch nicht mit der Sicherheit von Arbeitsplätzen. Kein Medium würde das drucken oder senden. Getreu dem journalistischen Wort „only bad news are good news“. Nun lässt sich tatsächlich eine Aussage darüber machen, ob und wie die EK-Ausstattung eines Unternehmens optimiert werden kann. Dazu zählen aber nicht die sogenannten ‚Finanzierungs-regeln‘, wie sie in einschlägigen Lehrbüchern der Wirtschafts- und Berufs-schulen den Auszubildenden immer noch suggeriert werden (und die sich nicht dagegen wehren können weil sie ja annehmen, dass die ‚Autoritäten‘, die dieses Wissen vermitteln „es schon wissen werden“). Goldene Bilanzregel, horizontale und vertikale Kapitalstrukturregeln, Liquiditäts-grad I bis III und welche furiosen Namenserfindungen da immer noch auftauchen.Theoretisch mögen manche ja ganz interessant sein.

 

Aber ihr praktisches Nutzen bleibt weit hinter dem zurück, was ihnen in der öffentlichen Meinungsbildung zugestanden wird. Die mit Sicherheit wichtigste Kennzahl von marktwirtschaftlich geführten Unternehmen ist die Eigenkapital-Rentabilität; kurz: EKr. Sie ist definiert als der Gewinn im Verhältnis zum eingesetzten Kapital – hier dem Eigenkapital - mal hundert. Als Ergebnis erhält man einen Prozentwert, der einen höchst interessanten Vergleich zulässt. Dieser Wert lässt sich nämlich vergleichen mit einer alternativen Anlage des vorhandenen EK am Geld- und Kapitalmarkt. Auf diesem Markt werden Anlagezinsen gehandelt, die einen wirklich objektiven Vergleichsmaßstab gestatten. Liegt meine EKr unter diesem Wert, dann ist es besser die Firma aufzulösen und das Geld zur Bank zu bringen und dort anzulegen. Allerdings zeigt die Realität, dass die Ertragslage deutscher Unternehmen im Allgemeinen deutlich über den Renditen am Geld- und Kapitalmarkt liegt. Es kann sogar gezeigt werden, dass es in manchen (bestimmten) Fällen sogar günstig ist, Eigenkapital durch Fremdkapital zu ersetzen, wenn dadurch die Rentabilität des Unternehmens nachhaltig zu steigern ist.

 

Dieser in der Literatur schon seit langem bekannte Effekt wird als Leverage-Effekt bezeichnet. Damit soll keiner hemmungslosen Kreditfinanzierung das Wort geredet werden. Aber gezielt, dosiert und vorsichtig einsetzbar kann man durchaus positive Effekte für das Unternehmen erreichen. Und damit ist die Kernaussage dieses Kapitels endgültig als ad absurdum geführt. Zwei weitere Bilder zeigen noch einmal die Unbedeutung dieser Aussage. Zum einen: die Entwicklung der EK-Quote aller deutschen Unternehmen im Zeitraum von 1970 bis 2009.

 

Entwicklung der Eigenkapitalquote in % aller deutschen Unternehmen im Zeitraum von 1970 bis 2009

Entwicklung der Eigenkapitalquote in % aller deutschen Unternehmen im Zeitraum von 1970 bis  2009

 

Und die Entwicklung von Bilanzsumme und Eigenkaptal in diesem Zeitraum. Der ‚Knick‘ in den 1990iger Jahren ist allerdings buchtechnisch bestimmt und hat nichts mit realer Ökonomie zu tun. Eliminiert man diese technische Reaktion, so ist sehr gut der Gleichlauf von Bilanzsummen und Eigenkapital erkennbar.